Liä Dsi (Liezi): Musikverständnis

Be Ya war ein guter Zitherspieler. Dschung Dsï Ki war ein guter Zuhörer. Wenn Be Ya die Zither schlug und die Ersteigung eines hohen Berges im Sinne hatte, so sprach Dschung Dsï Ki: »Wundervoll, so steil und kühn, wie der Große Berg!« Hatte er fließendes Wasser im Sinne, so sprach Dschung Dsï Ki: »Vortrefflich, so wogend und wallend wie Fluß und Strom.« Was Be Ya dachte, erriet Dschung Dsï Ki mit Sicherheit.

Als sie einst im Schatten des Großen Berges wanderten, wurden sie plötzlich von einem heftigen Regen überrascht und machten halt unter einem überhängenden Felsen. Be Ya war trübselig gestimmt, nahm seine Zither und spielte. Erst spielte er eine Weise von tropfendem Regen, dann schuf er den Laut von stürzenden Bergen. Welche Melodie er immer spielte, Dschung Dsï Ki erriet sofort seine Stimmung.

Da legte Be Ya die Zither weg und sagte seufzend: »Vortrefflich,[112] vortrefflich hörst du, was ich im Sinne habe. Die Bilder, die du ersinnst, sie gleichen meiner Stimmung. Unmöglich ist es mir, dir mit meinen Tönen zu entgehen.«

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 112-113.
Permalink: http://www.zeno.org/nid/20009206906
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Dieser Text aus dem Liezi (hier in der Übersetzung von Richard Wilhelm) zeigt, wie wichtig das Zuhören für die Musik ist. In einer Variante der Geschichte stirbt der Zuhörer eines Tages, worauf der Zitherspieler die Saiten seines Instruments zerschneidet und nie mehr spielt.
Der Zitherspieler Be Ya (Bo Ya) wird in verschiedenen Schriften erwähnt. Die „Zither“ ist eine Qin (auch Guqin), das noble Instrument der Literaten, eines eher elitären Kreises also.
Nicht minder elitär war und ist das Publikum der „Neuen Musik“, die nun in der Regel alles andere wollte, als Assoziationen und Bilder zu evozieren. Das Ideal der „absoluten Musik“, die aus nichts als sich selber besteht, wurde zwar als ,ehr oder minder unerreichbar erkannt, dennoch versuchte man lange, ihm so nahe wie möglich zu kommen, zum Beispiel auch durch Titel, die die Zuhörer nirgendwo hinlenken. Programmmusik dagegen hatte etwas anrüchiges. Wer gewagt hätte, zu einem Werk einen bildlichen Kommentar abzugeben, wäre in der Hochphase des Serialismus geächtet worden. Friedrich Goldmann erzählte mir einmal, dass er einem anderen Komponisten ein Kompliment machte, indem er sagte, dessen Stück sei sehr schön. Der andere Komponist war daraufhin beleidigt. Selbst so etwas durfte nicht über die Musik gesagt werden. Wenn nun Musik nur im Sinn des Komponisten verstanden werden darf, keinen Raum für ein persönliches Empfinden offen lässt (ganz gleich, auf welcher Ebene), dann ist es sehr schwierig, solche Musik einem breiten Publikum zu öffnen, ein Problem, das bis heute geblieben ist, obwohl mittlerweile alle möglichen Arten von Musik in den aktuellen Aufführungen neuer Werke zu hören ist. Damit ist nicht gemeint, dass man zum gefälligen Wohlklang zurückgekehrt ist (höchstens in einzelnen Fällen). Aber die Musik öffnet sich allen, ist nicht mehr nur einem elitären Kreis vorbehalten. Ich hoffe, dass man eines Tages auch sagen wird, wenn man ein Stück von Stockhausen oder Boulez aus den 50er Jahren hört: wie gewaltig ist die Brandung der Wellen, die sich da vor meinem inneren Auge auftut! Wie sich der Sturm zusammenbraut und wieder abflaut, wie das Licht flackert, dann wieder blendet und manchmal im Trüben verlöscht!
Die Klänge können in einem offenen Zuhörer widerhallen wie in einem zweiten Instrument, wenn man sie lässt und dieses zweite Instrument zu schätzen weiß. Denn das Müssen keine Musikerinnen und Musiker sein, die da hören, nein, eben gerade nicht. In einem Interview in seinen letzten Lebensjahren stellt Boulez dies im Grunde selbst fest:

BR-KLASSIK: Und wenn Sie selbst im Publikum sitzen . . . 

Pierre Boulez: . . . bin ich nun mal kein normaler Zuhörer. Ich vergleiche bestimmte Stellen, achte auf Details, denke darüber nach, wie ich diese oder jene Passage dirigiert hätte. Ich bin Musiker, kein Musikliebhaber, ob ich will oder nicht.

Quelle: https://www.br-klassik.de/aktuell/news-kritik/interview-boulez-2011-haben-neuhoff100.html

Ich gestehe, ich finde diese Aussage ziemlich schlimm. Als ob es nicht möglich wäre, als Musiker trotzdem auch emotional, träumend, meinetwegen naiv den Klängen zu lauschen. Ich entsinne mich, dass Boulez an anderer Stelle einmal sinngemäß gesagt hat, ihn interessiere gar nicht, wie es klinge, nur wie es gemacht sei.
Wie auch immer: eine solche Haltung verlangt umso mehr nach dem richtigen Publikum, einem, welches einen anderen Zugang hat, auf einer anderen Ebene zuhören kann. Was hätte denn der Komponist davon, wenn ihm jemand nach dem Konzert sagen würde: „Ah ja, da haben Sie zuerst die Reihe in der Grundgestalt so präsentiert, dass jeweils die ungeradzahligen Töne die Dynamik zwischen forte und dreifachem Fortissimo haben, um dann bei der Überlagerung mit dem Krebs der Reihe jeweils jeden Ton crescendierend in einer Augmentation weiterzuführen, wobei sie die Register jeweils zwischen Holzbläsern und Streichern so abgewechselt haben, dass die Überlagerung gekonnt akustisch verschleiert wird.“
Ich würde in so einem Fall nur sagen können: „Danke, dass sie mir die Partitur vorgetragen haben.“
Ich wünschte mir einen Dschung Dsï Ki, der mir von den Regentropfen und den stürzenden Bergen erzählt, selbst wenn das gar nicht wäre, was ich beim Spielen im Sinn hatte.

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